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Pluralität (oder Viele-Sein) ist die Existenz von zwei oder mehr sich ihrer Selbst bewussten Wesenheiten innerhalb eines einzelnen physischen Gehirns.

Ihr könnt euch ein plurales Kollektiv wie eine lebenslange Wohngemeinschaft vorstellen, allerdings mit einem Körper statt Apartment.

Es ist ein Konzept, das viele fasziniert — die Vorstellung, stets das Leben mit anderen zu teilen, nie allein zu sein, egal wo man ist. Und doch, trotz allem, mangelt es an Verständnis und es herrscht ein Übermaß an Stigma rund um Pluralität, wodurch viele Plurals ihre Authentizität verbergen.

Viele-Sein nimmt viele Formen an. Diese Seite kratzt lediglich an der Oberfläche dieses vielseitigen Themas, aber wir hoffen dass wir hiermit trotzdem mehr Verständnis erreichen können.


Hilfreiche Begriffe

Es gibt viele Begriffe im Zusammenhang mit Pluralität. Hier befinden sich bloß einige der meist genutzten.

Verschiedene Plurals haben unterschiedliche Präferenzen wenn es um Sprache geht. Betrachtet diese Liste lediglich als Ausgangspunkt!

  • System (oder Kollektiv, Kopf-WG): Die plurale Gruppe, die ein einzelnes Gehirn bewohnt.
  • Systemmitglied (oder Mitbewohner, Headmate): Ein einzelnes Individuum innerhalb des Systems.
  • Front: Wenn ein Systemmitglied den gemeinsamen Körper kontrolliert, spricht man oft vom „Fronten“ oder „an der Front sein“.
  • Switch: Wenn Systemmitglieder untereinander die Kontrolle über die Front abgeben, spricht man oft von einem „Switch“ oder „switchen“.
  • Co-Bewusstsein/-Fronten: Wenn sich zwei oder mehr Systemmitglieder gleichzeitig das Bewusstsein und/oder die Kontrolle über den Körper teilen.
  • Identitätsvermischung/-verwirrung (oder Blending/Blurryness): Die subjektiv empfundene Unklarheit, welche Systemmitglieder derzeit fronten. (Nicht zu verwechseln mit Dissoziation oder Amnesie!)
  • Innenwelt (oder Headspace): Eine interne Landschaft, die sich das Kollektiv teilt, und oft ein Ort wo Systemmitglieder hingehen wenn sie nicht an der Front sind.
  • Singlet: Ein Mensch der nicht plural ist. Ein einziges Individuum in einem einzigen Gehirn.

Ursachen

Es ist nicht völlig bekannt was Pluralität auslöst, und wahrscheinlich gibt es keine einzelne Ursache dafür.

Die klinische Diagnose für die dissoziative Identitätsstörung (DIS) und andere dissoziative Störungen finden ihren Ursprung typischerweise in schweren Kindheitstraumata.

Außerhalb der klinischen Psychologie schreiben einige ihre Pluralität nicht-traumatischen Ursachen zu. Manche betrachten es als angeborenen Unterschied im Gehirn. Andere sehen es als spirituelles Phänomen. Es gibt sogar Plurals, die nicht ursprünglich Viele waren, aber plural geworden sind als ihre mentalen Kreationen lebendig wurden — beabsichtigt oder unbeabsichtigt. Außerdem gibt es plurale Kollektive die ihren Ursprung nicht kennen, verschiedene Ursprünge haben, oder den Ursprung gar nicht als relevant betrachten.

Zwischen den verschiedenen Ursprungsarten gibt es funktionale Unterschiede. Zum Beispiel erleben Plurals mit Trauma-basierten Formen von Pluralität tendenziell mehr Schwierigkeiten mit einigen PTBS-Symptomen und Gedächtnis, welche viele Plurals ohne Trauma-Hintergründen nicht erleben.

Jedoch teilen alle Plurals einen gemeinsamen Nenner: Viele-Sein.


Mythen

Eine Vielzahl von Stigmen ranken sich um Pluralität. Hier klären wir über die geläufigsten Mythen auf.

Mythos #1: Pluralität ist super selten

Die International Society for the Study of Trauma and Dissociation (ISSTD) platziert die Prävalenz von DIS bei etwa 1-3% weltweit. Das liegt im gleichen Rahmen wie Autismus und Zwangsneurosen. Die Zahlen werden umso größer, sobald man Plurals, die sich nicht im klinischen Bereich identifizieren, und andere Formen von Dissoziation mit einbezieht.

Zwar bilden Plurals keine Mehrheit, trotzdem ist es sehr wahrscheinlich dass ihr bereits mindestens einem System im Leben begegnet seid ohne es überhaupt zu merken!

Mythos #2: Plurals sind gefährlich

Gerade dieser Mythos existiert vermutlich wegen Hollywood’s zahlreichen Darstellungen von DIS-Plurals als gewalttätige Axt-Mörder. Gelinde gesagt, glaubt nicht alles was ihr auf der großen Leinwand seht.

Laut Aussage der ISSTD stellen neueste Forschungsergebnisse keine Korrelation fest zwischen dem Leben mit DIS und der Ausübung von Verbrechen. Es ist wahrscheinlicher dass die Menschen mit DIS die Opfer statt Täter von Verbrechen werden.

Traurigerweise richtet sich die meiste Gewalt von DIS-Plurals gegen sie selbst. Über 70% der Menschen mit DIS haben mindestens einen Suizidversuch unternommen, u.a. wegen der Last von vergangenen Traumata, komorbiden Gesundheitsproblemen, mangelndem Zugang zu kompetenter und einfühlsamer Gesundheitsversorgung, und häufige Retraumatisierung durch soziales Stigma und Ignoranz.

Es existieren keine Statistiken über Plurals außerhalb des klinischen Rahmens, aber man kann mit Sicherheit sagen dass diese Menschen wahrscheinlich ebenfalls nicht gewalttätig sind — nicht mehr als jede andere Randgruppe.

Mythos #3: Plurals sind psychisch krank und müssen „Eins“ werden um gesund zu leben

Zwar glaubte die Psychiatrie früher dass Pluralität grundsätzlich eine Störung sei, heute jedoch wird von modernen Behandlungsmethoden anerkannt dass es möglich ist, erfolgreich und glücklich als plurales Kollektiv zu leben. Informierte Therapie für DIS fokussiert sich jetzt mehr auf die Verarbeitung von vergangenem Trauma und lehrt die Kollektivmitglieder zusammenzuarbeiten — mit optionaler Integration (der Fachbegriff für das „Eins-Werden“).

Selbst nach dem Erlernen von Kooperation und der Aufarbeitung von vergangenem Trauma empfinden manche Plurals das Viele-Sein als schwierig und entscheiden sich für Integration. Andere können sich diese Option gar nicht vorstellen und betrachten das Konzept mit großem Unwohlsein. Dennoch integrieren manche teilweise, während andere Integration versuchen und feststellen, dass Eins-Sein für sie entweder nicht möglich ist oder mehr Schwierigkeiten bereitet.

Wie mit allem anderen auch, Integration ist persönlich für alle Plurals. Die Entscheidung zu integrieren oder als Viele zu verbleiben liegt einzig und allein bei ihnen selbst.

Mythos #4: Pluralität ist ausgedacht

Es wurden an DIS-Plurals Studien mit Hirnscans durchgeführt, die signifikante Unterschiede zwischen Systemmitgliedern zeigen. Unterschiede, die bei geschulten Schauspielern, die vorgeben DIS zu haben, nicht vorliegen.

Zur Zeit existieren keine solche Studien die an nicht-klinischen Plurals durchgeführt wurden, allerdings steigt das Forschungsinteresse in diesem Feld.

Mythos #5: Pluralität ist ein miserabler Daseinszustand / eine Gabe ohne Kehrseiten

Viele-Sein ist weder grundsätzlich besser noch schlechter als Eins-Sein (ein Individuum in einem Körper). Manche Plurals sind glücklich darüber Viele zu sein, manche sind unglücklich, und andere befinden sich dazwischen.

Niemals allein zu sein kann ein Segen sein. Es kann auch ein Fluch sein. Du und deine Mitbewohner können sich super nahe stehen, oder ihr streitet euch oft, oder ihr kommt einfach miteinander aus. Und manchmal geschehen Dinge im Leben, die es einfacher oder schwieriger machen in einer WG zu wohnen. Selbst die besten Freunde streiten manchmal.

All dies trifft auch auf plurale Kollektive zu. Es kann eine Herausforderung sein, sicher zu stellen dass alle Mitglieder gehört und versorgt werden. Jedoch kann es auch eine Belohnung sein, wenn sich alle gegenseitig unterstützen um Dinge zu erreichen, die allein nicht möglich wären.


Wie ist das so?

Viele-Sein ist vielseitig, vielfältig und vielschichtig. Ein Leben als plurales Kollektiv kann viele Formen annehmen.

Diese Seite kratzt bloß an der Oberfläche, und ist nicht repräsentativ für alle Plurals. Seid nicht überrascht wenn ihr einem Kollektiv begegnet dass hier nicht beschrieben ist!

Wie mit jeder anderen Gruppe von Personen variiert es, wie und wie gut die Mitglieder innerhalb eines pluralen Kollektivs miteinander auskommen. Manche koexistieren glücklich während andere streiten, jedoch müssen sie in allen Fällen lernen untereinander zu kommunizieren, zu kooperieren und Kompromisse einzugehen. Zusätzlich zu diesen Grundlagen kommen einige besondere Herausforderungen im Zusammenhang mit dem Teilen eines Körpers hinzu, wie etwa Management von Frontzeiten und Beziehungen als Gruppe. Es ist ein Erlebnis sowohl mit Herausforderungen als auch Belohnungen.

Identität

Plurale Kollektive variieren weitgehend darin wie getrennt ihre Mitglieder von einander sind. Ein System mag sich selbst als ein einziges Wesen betrachten das aus vielen Facetten besteht, oder als viele Personen die in einem Kopf zusammen wohnen, oder sogar als irgendwo dazwischen. Systemmitglieder können auch stark darin variieren wie unterschiedlich ihre Persönlichkeiten sind. Es gibt Kollektive in denen die Mitglieder extrem ähnlich in ihren Ansichten und Verhalten sind, und in anderen sind Mitglieder so verschieden wie in jeder Gruppe von Personen die zufällig von der Straße aufgelesen worden sind.

Die subjektiven Identitäten und Selbstbilder von Systemmitgliedern müssen nicht unbedingt ihrem Körper entsprechen. Es gibt viele Mitglieder die innerlich jünger oder älter sind als ihr Körperalter, ein anderes Geschlecht haben, und sogar nicht-menschlich sein können.

Kommunikation

Kommunikation zwischen Mitgliedern ist essentiell für das Funktionieren eines Systems. Der Aufbau von interner Kommunikation spielt sogar eine große Rolle bei der Therapie für DIS.

Manche Kollektive können untereinander relativ problemlos kommunizieren, indem sie einfach denken was sie einander sagen wollen, wie interne Telepathie. In manchen Fällen können sich Systemmitglieder zusätzlich auch gegenseitig grobe Gedanken und Gefühle senden, was die Kommunikation einigermaßen erleichtert (allerdings nicht unfehlbar macht).

Es gibt viele Kollektive die gar nicht gedanklich kommunizieren können, und stattdessen Notizen hinterlassen, Zeitpläne und ToDo-Listen führen, und in Tagebücher schreiben.

Viele Kollektive befinden sich irgendwo in der Mitte, und sind in der Lage nur über vage Eindrücke zu kommunizieren. Es gibt auch Fälle in denen manche Mitglieder des Systems problemlos miteinander kommunizieren können, während es für andere viel schwieriger ist.

Selbst in Kollektiven die verlässlich untereinander kommunizieren kann die Kommunikation gestört werden durch Stress, falsche Medikamente, oder andere Faktoren. Daher haben viele Systeme Notfallmaßnahmen falls dies passiert.

Headspace

Die internen Welten von Systemen variieren weitgehend in ihrem Ausmaß und Funktion. Manche Innenwelten sind sehr simpel, nicht mehr als ein Raum oder Feld wo Personen sich unterhalten können. Andere sind ausgearbeiteter: kleine Dörfer, große Villen, ausgedehnte Wälder… Und wieder andere sind so komplex wie der Parakosmos eines Fantasy-Autors.

Manche Kollektive haben gar keine interne Welt. Stattdessen sitzen die Mitglieder, die gerade nicht aktiv an der Front sind, auf dem „Rücksitz“ oder schlafen ein.

Switchen

Plurale Kollektive variieren sowohl in der Häufigkeit der Switches die sie durchführen, als auch im Ausmaß der Kontrolle die sie darüber haben.

Es gibt Kollektive die nie oder fast nie switchen. Ein Systemmitglied bleibt immer an der Front, während die anderen in der Innenwelt verbleiben.

Manche Kollektive switchen ständig, und regeln das physische Leben in Stunden-, Tages- oder sogar Wochenschichten. Gewisse Systemmitglieder können bestimmte Aufgaben haben. Zum Beispiel könnte ein Mitglied zur Schule oder Arbeit gehen, und ein anderes sich um den Haushalt kümmern, während ein anderes Mitglied nur in gefährlichen Situationen einschreitet.

Für Kollektive die switchen gibt es ein Spektrum inwieweit sie Kontrolle über ihre Switches haben. Manche können geradezu beliebig switchen, während andere fast gar keine Kontrolle darüber haben. Die meisten Systeme befinden sich dazwischen. Switches können größtenteils kontrolliert werden, aber unter bestimmten Bedingungen switchen die Mitglieder unfreiwillig oder bleiben an der Front „stecken“. Wie auch die Kommunikation gehören sowohl die Erarbeitung von einem höheren Level an Kontrolle über Switches, als auch das Management von unfreiwilligen Switches zum Hauptteil der Therapie für DIS.

Organisation

Es gibt viele Arten wie plurale Kollektive sich selbst organisieren und Regeln aufstellen, für alles von der Interaktion mit Personen im „Außen“, bis hin zur Körperpflege und dem Umgang zwischen Systemmitgliedern untereinander.

Manche Kollektive, besonders kleinere, sind sehr informell was ihre Organisation angeht. Wie in einer Wohngemeinschaft entscheiden sie gemäß grundlegender Richtlinien und fragen im Zweifel nach.

Einige Kollektive haben ein einzelnes Mitglied oder eine Gruppe denen anvertraut wird, alles im Außenleben des Systems zu regeln. Andere führen auch Abstimmungen bei größeren Entscheidungen durch. Manche dehnen das weiter aus indem sie interne Parlamente kreieren und formelle Satzungen gründen.

Nur wenige Kollektive organisieren sich ohne jegliche Regeln. Ein gewisser Grad an Ordnung — selbst wenn es bei einer simplen Vereinbarung bleibt, keine Personen innen wie außen zu schädigen — ist notwendig um erfolgreich zusammenzuleben.


Etikette

Jedes System hat seine eigenen Präferenzen dafür, wie sie sich den Umgang mit ihnen wünschen. Folgendes tendieren generelle Daumenregeln zu sein.

Fragt nicht ob sie gefährlich sind. Hollywood ist keine zuverlässige Quelle für Informationen.

Fragt nicht danach die „echte“ Person zu treffen. Alle Mitglieder eines pluralen Kollektivs sind real.

Geht nicht davon aus dass alle Mitglieder des Kollektivs der gleichen Meinung sind, die gleichen Präferenzen haben, etc.

Outet ein System nicht ohne deren Einwilligung, selbst wenn ihr glaubt dass die Personen verständnisvoll sein würden, gegenüber denen ihr das Kollektiv outen wollt.

Drängt ein Kollektiv nicht gegen ihren Willen zu Therapie oder medikamentöser Behandlung. Wenn sie kein Interesse an Integration zum Ausdruck gebracht haben, sprecht sie auch nicht darauf an. (Gleichermaßen: redet es ihnen nicht aus wenn sie aus eigenem Willen heraus entschieden haben Behandlungen in Anspruch zu nehmen.)

Schnüffelt nicht in den Trauma-Geschichten von Systemen herum, sofern vorhanden. Das bedeutet auch, nicht danach zu fragen ob welche bestehen.

Vergesst nicht dass ein plurales Kollektiv eine Gruppe von Individuen ist. Viele begrüßen es sehr wenn Außenstehende die einzelnen Systemmitglieder mit ihren individuellen Namen und Pronomen ansprechen. (Schließlich ist es merkwürdig mit dem Namen seiner Geschwister angesprochen zu werden.)

Wenn ihr nicht mit den einzelnen Mitgliedern des Systems vertraut seid haben viele Plurals eine Präferenz wie sie als Kollektiv angesprochen werden möchten. Meistens im Plural und mit ihrem Systemnamen (ähnlich wie ein Familien- oder Bandname).

Fragt im Zweifel nach was ein Kollektiv bevorzugt und folgt ihrem Beispiel.

Grundsätzlich: respektiert ihr Recht zur Privatsphäre und Selbstbestimmung. Sofern sie sich nicht anders identifizieren, betrachtet sie als Mitglieder einer Wohngemeinschaft statt einer einzigen Person mit mehreren Persönlichkeiten. Oder eine Truppe die eine Show als „Eins“ abzieht um über die Runden zu kommen. In den Backstagebereich eingeladen zu werden ist ein großer Akt des Vertrauens — brecht es nicht!


Hinweis: Wir sind nicht die Autoren des voranstehenden Informationstextes und erheben keinen Anspruch auf Urheberrecht. Hierbei handelt es sich um eine freie Übersetzung der englischsprachigen Website https://morethanone.info (Stand: Oktober 2022)